Seismograph zwischen Realität und Vision

von Claus K. Netuschil

Breslau, Berlin, Paris, Köln, London, Frankfurt/Main und Marxheim: das sind die Orte, in denen sich das turbulente und künstlerisch erfüllte Leben des Malers und Schriftstellers Ludwig Meidner zwischen seiner Geburt in Bernstadt/Schlesien und seinem Tod in Darmstadt/Hessen abspielte: Zeiten des Aufbruchs, der Findung, auch der religiösen, der Verfolgung, der Vertreibung, des Exils und des Neuanfangs. Meidners Leben, in einer Zeit der radikalen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war geprägt und gezeichnet von vielen existenziellen Hochs und Tiefs.

Blick in die Ausstellung Meidner/Kitta-Kittel
Blick in die Ausstellung Meidner/Kitta-Kittel

Er sei der „heißeste Krater“ der „vulkanischen Epoche“ schrieb, mitten im expressionistischen Jahrzehnt 1920, der Kunsthistoriker Willi Wolfradt über den Maler, Radierer und Prosa-Schriftsteller Ludwig Meidner: „Alles was er macht ist Ausdruck, Ausbruch, Aussprengung!“

Wenn es einen Künstler am Anfang des 20. Jahrhunderts gibt, auf den die Stilbezeichnung Expressionismus in voller Inhaltlichkeit und in der großen Dimension stilistischer Reinheit zutrifft, so ist es Ludwig Meidner! Meidners gemalte Bilder und seine Radierungen machen betroffen: die kratigen Gesichtslandschaften der Kalten Nadel oder mit dem Federkiel ins Papier gekratzt, die explosiven, apokalyptischen Landschaften, die an Greco oder Goya eher denken lassen, als an einen Meister des 20. Jahrhunderts, die stürzenden Straßen, Zeichen des unsicheren Weltgefühls am Vorabend des 1. Weltkriegs, das Aufbegehren großer Menschenmassen in Zeiten der Revolution, seine Kaffeehausszenen und die Heiligen und Propheten als Visionen des gläubigen Juden.

Im Frühwerk ist alles bei ihm „Brodeln, Lodern, Eruption“. Meidner ist der einzige seiner Epoche, der seismographisch die reale Welterschütterung des Krieges visionär vorausahnte und künstlerisch wie keiner vor ihm gestaltete.

1884 in Bernstadt in Schlesien geboren, ging  er, nach einer Maurerlehre für das vorgesehene Architekturstudium und einem zweijährigen Besuch der Breslauer Kunstschule, 1905 als Modezeichner nach Berlin und 1906/07 weiter nach Paris, wo er sich mit Modigliani anfreundet. Wieder zurück in Berlin gründete er mit Richard Janthur und Jakob Steinhardt den Malerklub „Die Pathetiker“. Er gehörte zu den Hauptvertretern des frühen Expressionismus, war bekannt und befreundet mit den wichtigsten Exponenten der Literatur und der Kunst, die er im Bildnis festhielt: Meidner ist der Porträtist seiner Zeit!

Das reale Kriegsgeschehen im 1. Weltkrieg, das ihm die Möglichkeit zum Malen nahm, machte ihn zum Schriftsteller. Seine Prosa gehört zum wichtigsten was der literarische Expressionismus hervorgebracht hat und: sie gehört zu den gründlich vergessenen Texten der Epoche!

Expressionismus ist Aufschrei und Ektase und kann nur von kurzer Dauer sein! Die kunstgeschichtliche Ungerechtigkeit gegenüber Meidners Werk liegt darin, dass es fast ausschließlich für die Jahre 1912-1922 beachtet und bewertet wird. Was danach kam, ist dennoch ein intensives, religiös gesteigertes Malerleben inmitten der weltgeschichtlichen Katastrophe des 2. Weltkriegs, begleitet von Flucht und Vertreibung, von Internierung und entbehrungsreichen Leben im Exil und einer Rückkehr, die ihm endlich und fast zu spät gebührende Anerkennung und künstlerische Erfolge brachte. In der Isolation des Londoner Exils entstanden, neben Porträts, surreale Szenen „die in einer Mischung aus Schrecken, Humor und Übertreibung das Zeitgeschehen als groteskes Welttheater schildert“.

Über Hamburg, wohin ihn der Generalstaatsanwalt Ernst Buchholz (1905-1967) einlud und ihm Porträtaufträge vermittelte, und Bonn – dort förderte ihn der Jurist, Politiker und Architekturkritiker Adolf Arndt (1904-1974), der von 1949-1969 Mitglied des Bundestages war – kam er nach Hessen. Das Hauptargument seiner Rückkehr nach Deutschland war die Sprache, die ihm, wie er immer wieder betonte, Existenz bedeutete und die er im Londoner Exil so sehr vermisste.

In Hessen lebten Freunde und Weggefährten aus den Zeiten des Expressionismus, so der Schriftsteller Kasimir Edschmid oder die Frankfurter Galeristin Hanna Bekker vom Rath. Meidner verließ das jüdische Altersheim in Frankfurt, nachdem Hanna Bekker vom Rath ihm eine aufgelassene Klempnerwerkstatt in Marxheim bei Hofheim vermittelte, wo er, wie er selbst immer wieder in Briefen schrieb, zehn glückliche Jahre verlebte.

Der damalige Finanzminister des Hessischen Staates, Heinrich Troeger (1901-1975), gehörte zu den wichtigsten Förderern dieses letzten Lebensabschnittes Ludwig Meidners. Troeger setzte durch, dass Meidner ein monatliches Stipendium erhielt und er vermittelte zahllose Bildnisse prominenter Bürger Hessens, so porträtierte Meidner auch den Hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn. Troeger, Kunstfreund, Sammler und Förderer der Künstler, studierte in den 20er Jahren in Breslau, Würzburg und Halle Jura. In dieser Zeit lernte er Meidner kennen.

Der Kulturreferent und spätere Oberbürgermeister der Stadt Darmstadt, Heinz-Winfried Sabais (1922-1981) bewirkte 1963, gemeinsam mit Kasimir Edschmid, Meidners Umzug in eine kleine Atelierwohnung nach Darmstadt, wo er 1966 starb und auf dem dortigen Jüdischen Friedhof beigesetzt wurde. Bestrebungen Meidner schon 1919, in der Gründungsphase der Darmstädter Sezession, deren frühes Mitglied er war, nach Darmstadt zu holen, erfüllten sich so in diesen späten Jahren.

In einem Interview zum 80. Geburtstag hat Ludwig Meidner sein künstlerisches Wunschziel der „drittgrößte … Zeichner der Kunstgeschichte werden (zu)  wollen – nach Ingres und Menzel“ formuliert. Auch wenn er selbstkritisch an seinem Postulat zweifelte, steht unumstößlich fest: die Zeichnung war und bleibt das Zentrum seines Schaffens. Meidner ist einer der größten Meister dieser intimsten und ursprünglichsten Äußerung der Kunst und mit Fug und Recht neben die beiden großen Zeichner des 19. Jahrhunderts zu stellen.

Dennoch, Meidner, der zu den herausragenden Künstlergestalten des 20. Jahrhunderts gehört, muss immer wieder neu entdeckt  werden – sein Werk ist von ungeheurer Intensität, reich, groß und einmalig!

 

Erinnern an Meidner

Sehr herzlich laden wir Sie für Freitag, den 16. September 2016, 19.00 Uhr zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Erinnern an Meidner“ ein, die in der Galerie Netuschil innerhalb unserer derzeitigen Ausstellung „Lehrer, Schüler, Freund, Kollege“ mit Bildern von Ludwig Meidner und Jörg von Kitta-Kittel stattfindet. In einer Gesprächsrunde erinnern sich Weggefährten, Modelle und damalige Atelier-Besucher im Gespräch mit dem Galeristen an Meidner, der seine letzten drei Lebensjahre in Darmstadt verbrachte.

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