Rätsel um ein Porträt

Ein Gemälde, das aktuell im Museum Giersch der Goethe-Universität in der Ausstellung „Horcher in die Zeit“ zu sehen ist, hat den Forschern lange Rätsel aufgegeben. Im Katalog zur Ausstellung gibt Erik Riedel, Kurator des Ludwig Meidner Archivs im Jüdischen Museum Frankfurt, den Stand der Forschung wieder:

Junger Mann in blauem Anzug, 1912 Öl auf Leinwand, 81 × 44,5 cm Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, © Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main
Junger Mann in blauem Anzug, 1912 Öl auf Leinwand, 81 × 44,5 cm Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen, © Ludwig Meidner-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main

Das Herrenporträt, das durch seine expressive Farbgebung und das ungewöhnlich gestreckte Hochformat auffällt, wurde im Oktober 1969 aus Oldenburgischem Privatbesitz von der Bremer Kunsthalle erworben. Bereits im Februar des folgenden Jahres wurde der Ankauf des Gemäldes in der „Chronique des Arts“ als „portrait d’homme“ publiziert. Daraufhin äußerte ein Germanist aus Hannover die Vermutung, bei dem Dargestellten handle es sich um den mit Meidner befreundeten Dichter Johannes R. Becher (1891–1958), den Meidner mehrfach porträtierte. Den Kuratoren der Kunsthalle schien diese Zuweisung jedoch nicht plausibel, und so wurde das Gemälde in zwei 1973 erschienenen Sammlungskatalogen lediglich als „Herrenbildnis“ publiziert. Als in den 1980er Jahren erneut ein Germanist, diesmal von der Universität Mainz, meinte, den Dargestellten als Becher zu identifizieren, ließ man sich überzeugen und das Gemälde wurde 1994 als „Porträt Johannes R. Becher“ in den Gesamtkatalog der Gemälde der Bremer Kunsthalle aufgenommen. Tatsächlich weist das Bildnis eine Gemeinsamkeit mit dem Porträt Bechers von 1916 in der Akademie der Künste Berlin auf, die sich jedoch auf die Farbgebung, hauptsächlich das Blau der Anzüge, beschränkt. Hingegen sind trotz der abweichenden Körperhaltung deutliche physiognomische Unterschiede etwa bei den Formen von Nase, Mund und beim Haaransatz zu erkennen.

Die Vermutung, dass es sich nicht um Becher handelt, bestätigt sich durch die Untersuchung der Bildrückseite. Hier befindet sich ein leicht beschädigtes Etikett mit der mit Tinte geschriebenen Beschriftung „No. 16393, Ludwig Meidner, Sitzender Mann mit aufgest.[ütztem] Arm“ und dem nur schwer zu entziffernden Zusatz in Bleistift „junger Mann in blauem Anzug“. Die Nummerierung und der Titel stimmen mit denen eines in der Kartei des Kunstsalons Paul Cassirer aufgeführten Gemäldes überein, das Meidner der Kunsthandlung für seine Einzelausstellung im Februar 1918 überlassen hatte. Im Ausstellungskatalog findet es sich als Nummer 11 unter dem Titel „Junger Mensch in blauem Anzug“. In der Doppelausstellung von Meidner und César Klein, die im Juli/August desselben Jahres in der Kestner-Gesellschaft in Hannover stattfand, war das Bild ebenfalls ausgestellt. Bereits in der Katalogbroschüre zur Ausstellung der „Pathetiker“ 1912 in Herwarth Waldens Galerie „Der Sturm“ ist ein Gemälde mit dem sehr ähnlichen Titel „Portrait/Herr im blauen Anzug“ aufgeführt. Wer ist nun aber dieser „junge Mann“ beziehungsweise „Herr“? Aufschluss gibt die „Liste der Bilder in meinem Besitz“, die Meidner am 1. Juli 1916 anlegte, bevor er zum Militärdienst eingezogen wurde. Da in ihr die Porträtierten in der Regel namentlich aufgeführt sind und nur ein Porträt Bechers, nämlich das von 1916, verzeichnet ist, müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei dem Dargestellten nicht um Becher handeln kann. Wenn man zudem aus der Liste die eindeutig bekannten Gemälden zuzuordnenden Bildtitel streicht, bleibt nur ein Eintrag, der sich plausibel auf das Bild beziehen lässt, nämlich „Portrait Püttmann (blau)“. Wer sich hinter diesem Namen verbirgt, kann nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden. Es spricht jedoch einiges dafür, dass es sich um den 1880 geborenen Dichter Eduard Oskar Püttmann handeln könnte, dessen Werke sich auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ von 1938 finden und von den Nationalsozialisten verboten wurden.

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Doch noch eine weitere Diskrepanz wäre auszuräumen: In den Publikationen der Bremer Kunsthalle ist das Porträt durchgängig auf 1911 datiert, während in allen erwähnten Katalogen und Listen das Datum mit 1912 angegeben ist. Links unten im Bild befindet sich gut lesbar die Signatur mit dem Monogramm Meidners und mit einer Datierung, die anscheinend deutlich als „1911“ zu lesen ist. Erst bei näherer Betrachtung fällt auf, dass sich etwas unterhalb der letzten Ziffer ein Querstrich befindet. Damit wird aus der „1“ eine – wenn auch nur schwer erkennbare – „2“, womit wir die Datierung 1912 erhalten, die darüber hinaus auch unter stilistischen Gesichtspunkten weit einleuchtender ist. Es bleibt noch anzumerken, dass das Porträt im Januar 1920 vom Kunstsalon Cassirer für 800 Mark an die Kunsthandlung Carl G. Oncken verkauft wurde, die ihren Sitz im Turm der ehemaligen Heiligengeistkapelle, dem sogenannten „Lappan“ in Oldenburg hatte. Obwohl sich von der Kunsthandlung Oncken, die auch die „Brücke“-Maler Erich Heckel (1883–1970) und Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) vertrat, offenbar keine Unter lagen erhalten haben, lässt sich der weitere Verbleib des Bildes rekonstruieren: 1921 erwarb ein Oldenburger Jurist das Porträt, danach befand es sich einige Jahrzehnte lang in Familienbesitz, bevor es in den 1960er Jahren der Bremer Kunsthalle angeboten wurde.

Die Ankunft des Gemäldes im Museum Giersch dokumentiert dieser Film, in dem Erik Riedel zeigt, wie sich die neue Zuschreibung erklärt. Anschließend führt Kuratorin Dr. Birgit Sander in die Ausstellung „Horcher in die Zeit“ ein:

Film zur Ausstellung »Horcher in die Zeit – Ludwig Meidner im Exil« (20.3.–10.7.2016) im MUSEUM GIERSCH der GOETHE-UNIVERS from MUSEUM GIERSCH on Vimeo.

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