„Es soll ein Puzzle sein“. Mit Zeitzeugen, Schauspielern und Texten auf den Spuren Ludwig Meidners

Bei der Auftaktveranstaltung zu unserem Gemeinschaftsprojekt feierte auch eine szenische Lesung Premiere, die von Regisseur und Schauspieler Stéphane Bittoun inszeniert wurde. Er studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und arbeitet seitdem als Autor, Regisseur, Schauspieler und Sprecher für Theater, Film und Fernsehen. Tanja Neumann, die die Online-Kampagne des Projekts koordiniert, nutzte die Gelegenheit, ihn zu seiner Begegnung mit Ludwig Meidner zu befragen.

Stéphane Bittoun. Foto: Alexander Englert
Stéphane Bittoun. Foto: Alexander Englert

Tanja Neumann: Herr Bittoun, war Ludwig Meidner Ihnen bereits ein Begriff, als man mit der Idee einer szenischen Lesung an Sie herantrat, oder was das Ihr erster Kontakt mit ihm?

Stéphane Bittoun: Durch Zufall war er mir ein Begriff, weil ich schon eine Lesung mit ausgewählten Texten von ihm gemacht hatte. Das muss drei oder vier Jahre her sein. Vorher war er mir nicht bekannt, auch nicht aus dem Bereich der Expressionisten, ehrlich gesagt. Das ist ja auch typisch für Meidner: Heute würde man ihn als Beispielfall für falsches Networking nennen. Er gehörte keiner der Künstlergruppen an, die heute noch jeder kennt.

Da ging es Ihnen ganz ähnlich wie mir, ich hatte vor der Planung für dieses Projekt auch nur eine vage Vorstellung von seinem Werk. Sie sind ja dann mit Meidner aber sehr vertraut geworden. Ist dieses Stück ungewöhnlich für Ihr Schaffen, oder arbeiten Sie immer mit einer ähnlichen Technik?

Sonst bringe ich meine Stücke regelmäßig am Mousonturm Frankfurt heraus und schreibe sie selbst. Das kann bedeuten, dass ich ein Thema habe und wirklich alles selbst schreibe, oder auch auf bestehende Texte zurückgreife und sie mit eigenen mische. Ein Beispiel: Ich habe ein Stück über Revolution gemacht, da bringe ich diverse Revolutionäre, von Fidel Castro über Che Guevara bis zu Pussy Riot und Julian Assange, zusammen. In so einem Fall recherchiere viel über die einzelnen Figuren und schaue, was sie selbst gesagt haben und was ich in Biografien über sie finde. Ich lege ihnen aber auch Worte in den Mund und schreibe viele der Texte selbst. Auf diese Weise entsteht eine spannungsvolle Mischung zwischen Wahrheit und Fiktion.

Hier ist es so, dass ich zu großen Teilen auf Texte von Meidner selbst zurückgreife, aber auch Texte über ihn und Beschreibungen von Weggefährten einbeziehe. Dazu habe ich mir erst einmal Unmengen von Büchern in die Deutsche Nationalbibliothek bestellt und viel gelesen. Darüber hinaus habe ich mir zum Beispiel auch Biografien über seine Frau, Else Meidner, und einige befreundete Künstler, wie Modigliani, angeschaut.

Impression aus "Zinnobernächte und ultramarinblaue Tage". Foto: Alexander Englert
Impression aus „Zinnobernächte und ultramarinblaue Tage“. Foto: Alexander Englert

In der szenischen Lesung wechselt sich die Handlung auf der Bühne immer wieder mit filmischen Interviews ab, die in einer Projektion zu sehen sind. Die sind also alle zu diesem Zweck entstanden?

Genau. Ich arbeite immer multimedial, oft mit Film. Normalerweise sind das eher Spielfilmszenen mit den Schauspielern, die auch auf der Bühne stehen. Dann wechseln sich gefilmte Szenen mit dem Live-Geschehen ab. Hier waren es nun Interviews. Ich habe mich mehrmals mit den Zeitzeugen getroffen und auch Vorgespräche geführt. Sie hatten ganz unterschiedliche Beziehungen zu Meidner: Jörg von Kitta-Kittel war damals zwanzig und der Schüler von Ludwig Meidner, Frau von Plottnitz war noch jünger – erst siebzehn -, und sein Modell für mehrere Zeichnungen und Gemälde.

Diese Gespräche waren sehr hilfreich, weil ich mich schnell tief in die Welt von Ludwig Meidner einarbeiten musste, die auch sehr bewegt und sehr widersprüchlich ist. Er hat oft den Ort gewechselt, hat beide Weltkriege miterlebt, war im Exil und ist – als Jude – zurückgekehrt. Und auch die Zeitzeugen widersprechen sich – man merkt, sie erinnern sich unterschiedlich. Das ist für mich einer der zentralen Aspekte im Leben und Schaffen von Ludwig Meidner: Er hat Veränderungen durchgemacht, sei es vom Atheisten hin zum orthodoxen Juden oder vom Expressionisten zur Abkehr von dieser Richtung. Phasen, in denen er sich in einen Rausch malt oder in einen Rausch schreibt, wechseln sich ab mit Phasen, in denen er komplett resignierte. Und das kann man auch sehr gut verstehen, bei seiner Geschichte.

Sie hatten nur gut zwei Monate Zeit für diesen Prozess der Vorbereitung. Wie haben Sie es geschafft, dann die Fäden zusammen zu ziehen und das Stück zu entwickeln?

Nach der Lektüre und den Interviews fing das Komponieren an: Was lässt man die Zeitzeugen erzählen, wann überlässt man Meidner selbst das Wort? Im Fall seiner literarischen Texte fehlen oft die Verbindungen. Es sind keine Geschichten, in denen eine Person sich von A nach B entwickelt, sondern eher Zustandsbeschreibungen, fast wie Gemälde. Es ging also tatsächlich darum, zu schauen: Wie bringe ich das in eine gute Abfolge? Mein Anspruch, auch in anderen Stücken, ist immer der: Es soll ein Puzzle sein, ein Mosaik, damit der Zuschauer sich im besten Fall nicht nur zurücklehnt. Er soll Spaß haben und sich unterhalten fühlen, aber er soll auch mitdenken und diese spannende Spurensuche mitmachen.

Das erreichen Sie in diesem Stück auch dadurch, dass Ludwig Meidner von gleich drei Schauspielern gesprochen wird. Wollten Sie damit die verschiedenen Facetten seines Schaffens und seiner Persönlichkeit betonen?

Zum Einen ging es ganz pragmatisch darum, eine szenische Lesung zu machen. Ich wusste, es tauchen auch mal andere Figuren auf: George Grosz, der ihn besucht, oder eben auch seine Frau Else. Daneben lesen aber auch alle im Wechsel Texte von Meidner selbst, und das passt sehr gut, denn in der Tat hat er sehr unterschiedliche Facetten. Er hatte Beziehungen zu Männern und Frauen, insofern ist es für mich sehr überzeugend, dass wir alle – zwei Männer und eine Frau – seine Stimme sind.

Die Zeit in England muss für ihn besonders schlimm gewesen sein. Es ist ja frappierend, dass er, obwohl er Jude war, am Ende für sein Seelenheil zurück nach Deutschland gegangen ist, weil er von sich selbst sagt: „Ich muss da sein, wo diese Sprache gesprochen wird.“ Da fühlte er sich zuhause.

Und das, obwohl es ihn seine Familie gekostet hat. Mit seiner Frau blieb er zwar verheiratet, doch sie lebte weiterhin in England, und sein Sohn hat komplett mit ihm gebrochen.

Ja, wobei das auch spannend ist: Es gibt wenige durchgehende Beziehungen bei ihm. In Paris eine sehr intensive Freundschaft zu Modigliani, kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte er einen Lebensgefährten, der dann im Krieg gefallen ist. Es gab immer jemanden, mit dem er ein paar Jahre sehr eng war. Aber ich habe niemanden gefunden in all den Texten, Briefen und Postkarten, der durchgehend ein Lebensfreund oder eine Lebensfreundin gewesen sein könnte. Das spricht auch für eine gewisse Einsamkeit, und das meine ich ganz neutral: Sie hatte auch etwas Positives. Ähnlich erzählen es auch die Zeitzeugen;Frau von Plottnitz sagt, er sei ein guter Gastgeber und sehr gesellig gewesen, Herr von Kitta-Kittel sagt, er wollte eigentlich seine Ruhe haben. Es ist beides: Er wollte gern Menschen treffen, vielleicht auch wahrgenommen werden, aber eben dosiert zu seinen Bedingungen.

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben, Herr Bittoun!

Die szenische Lesung „Zinnobernächte und Ultramarinblaue Tage“ wird am 22. Juni im Museum Giersch aufgeführt. Alle Informationen zur Anmeldung finden Sie hier.

Weitere Termine folgen.

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