Selbstbildnis

Ludwig Meidner wird oft als Expressionist wahrgenommen, doch gerade in Porträts wie diesem wird eine andere Facette seines Werks deutlich. Dr. Birgit Sander, Kuratorin der Ausstellung „Horcher in die Zeit“ im Museum Giersch der Goethe-Universität, geht im Katalog näher auf die Besonderheit dieses Gemäldes ein:

Selbstbildnis, 1943 Öl auf Pappe, 37,5 × 26 cm Bez. rs. auf Klebezettel (aus späterer Zeit): L. Meidner London 1943 Privatbesitz
Ludwig Meidner, Selbstbildnis, 1943
Öl auf Pappe, 37,5 × 26 cm Bez. rs. auf Klebezettel (aus späterer Zeit): L. Meidner London 1943 Privatbesitz

Zu den wenigen Arbeiten in Öl, die während Meidners Exilzeit entstanden, zählt dieses kleinformatige Selbstbildnis. Es ist unbezeichnet; ein rückseitiger, nicht eigenhändiger Klebezettel, der aus späterer Zeit stammt, gibt als Datierung „1943“ an. Die gesicherte Provenienz aus Meidners Freundeskreis während seiner Jahre in Marxheim wie auch die unverkennbare Nähe des Bildnisses zu gezeichneten Selbstdarstellungen in Meidners Skizzenbüchern aus jener Zeit lassen die Datierung des Werkes als überzeugend erscheinen. Es entstand somit in London nach Meidners Internierungszeit, als er mit seiner Familie im nordwestlichen Stadtteil Golders Green ansässig war. Das exaltierte, idealistische Pathos der expressionistischen Selbstbildnisse des Künstlers mit Posen des Bürgerschrecks, des Verunsicherten, Kessen, Höhnischen, Angespannten, Ausgemergelten, aber auch des Prophetischen, Visionären und Gläubigen ist motivischer Schlichtheit, Sachlichkeit und Zurückhaltung gewichen. Die sensible Darstellung der eigenen Person weist – wie auch die zeitgleichen gezeichneten Selbstbildnisse – eine Fokussierung auf die Physiognomie des Kopfes auf. Es fehlen sowohl Verweise auf Meidners Tätigkeit als Maler und Zeichner als auch Hinweise auf sein jüdisches Bekenntnis wie Kippa oder Tallit. Der dunkle, neutrale Hintergrund, vor dem sich der Kopf mit der Glatze und die Brustpartie in hellerer Farbigkeit abheben, ist in gebrochenen Oliv- und Brauntönen ge halten. Wach und aufmerksam richtet sich der Blick des 59-jährigen Künstlers in den Spiegel beziehungsweise auf sein Gegenüber, den Betrachter. Die Augenpartie mit ihren rötlichen Lidern und einer leicht hochgezogenen linken Braue vermittelt Ernst ebenso wie Distanziertheit und Skepsis. Durch die Drehung und leichte Rückneigung des von der Seite gezeigten Kopfes entsteht ein Ausdruck von verhaltener Bewegtheit. Meidner präsentiert sich gleichsam erhobenen Hauptes, was als Ausdruck existenzieller Selbstbehauptung in jener schwierigen Zeit zu deuten ist. Eine ungeheure malerische Vitalität zeichnet das kleinformatige Selbstbildnis aus. Die heftigen, fleckigen Pinselzüge des Inkarnats verdichten sich um Mund, Nase und Augen zu wilden Pinselhieben. Von Meidners ungebrochenem malerischen Temperament zeugt auch die Schilderung der Kleidung, des nur angedeuteten braunen Pulloverausschnitts, eines blauen Hemdes sowie eines Malerkittels in Beigetönen – allesamt mit vehementen Pinselzügen in gebrochener Tonigkeit unruhig erfasst. Meidners Selbstbildnis entstand zu einer Zeit, in der er sich – bedingt durch die Notsituation des Exils – ausschließlich graphischen Techniken zuwenden konnte. Die ungeheure Leidenschaft für die Malerei, die in diesem Gemälde ihren Ausdruck findet, schlägt eine Brücke sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft – zu Meidners furioser Ölmalerei seiner expressionistischen Schaffensphase wie auch zur Vitalität seines Spätwerks, das nach der Rückkehr nach Deutschland 1953 entstehen sollte.

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