Von 1955 bis 1963 lebte Ludwig Meidner in Hofheim-Marxheim. Er liebte sein Atelier in der Bahnstraße 15 und war auch dem Ort sehr zugetan, wie nicht zuletzt aus seiner Angewohnheit, Briefe mit „Ludwig Marxheimer“ zu unterschreiben, hervorgeht. Am Samstag veranstaltet das Stadtmuseum Hofheim einen Abendspaziergang durch Marxheim „Auf den Spuren von Ludwig Meidner“, bei dem die Verbindung des Malers zu der Ortschaft näher beleuchtet werden wird.
Nicht besichtigt werden kann sein Atelier, das sich im Privatbesitz befindet. Wie schön, dass uns Fotos und eine Beschreibung aus Meidners eigener Feder dennoch einen Blick in seine vier Wände erlauben:
Beschreibung eines Malerateliers in Marxheim
Dass es auch noch andere Malerateliers gibt als solche, die mit dicken Perserteppichen ausgestattet sind, antiken Möbeln und Negermasken an den Wänden, beweist ein Atelier in Marxheim, nämlich das meine, das einmal eine Klempnerwerkstatt war und darum fünf große Fenster hat, in der Art der Fabrikfenster, die man nicht öffnen kann und das trotz aller eigensinnigen Unordnung und Verstaubtheit eine einzigartige Niederlassung im Main-Taunuskreis ist und bleiben wird. Ich hause da schon im siebenten Jahr und habe es mir so eingerichtet, wie es mir gefällt.
Nachdem ich dreissig Jahre in Berlin und vierzehn Jahre in London gelebt hab und überdies auch noch in einigen anderen Metropolen des Kontinents, wurde ich der Großstadt müde und meinte, dass ein Dorf der rechte Zufluchtsort wäre für einen eisgrauen Asphaltliteraten und Veteranen der entarteten Malerei von anno tobakk. Aber ach, dieses Dorf ist mitnichten ein stiller Platz. Auch hier rasen die Autos, lärmen die Düsenjäger und das schläft erst ein, wenn es drei Uhr Morgens ist. Sieht man sich dann näher um, so ist man etwas betreten, man hat sich ein Künstlerheim ganz anders vorgestellt. Was beunruhigt, sind die tausend Zeitungen, die überall herumliegen, längst ausgelesene und verdaute, Hefte, Broschüren, Bücher, aber kaum solche, die von der Kunst handeln, sondern hausbackene Sachen, häusliche Ratgeber, populäre Kochbücher, wie man Kartoffelpuffer bäckt oder auch, wie man bei kleinen Kindern die Bräune und den Ziegenpeter behandelt. Freilich findet man hin und wieder auch Werke über Mystik und Theosophie, W. Blake, Görres, Scholem; aber die hat mein Schüler und Mitarbeiter, der baltische Baron von Kitta, hingelegt. Das spähende Auge ist etwas verschüchtert, wenn es über die Tische oder in die Ecken gleitet – was einem da nicht alles zugemutet wird! Ein Unrat, ein sinnloser, ein hirnverbrannter, horrender Plunder: Sachen und Sächelchen, Flaschen und Fläschchen, leere Zinndosen, Schachteln, abgenagte Knochen, Reste von sauren Heringen, Obstschalen und Kerne, Rabattmarken vom „Konsum“, verstaubte Kleinigkeiten, Schnurrpfeifereien sonder Zahl. Und über all dem schwärmt und summt, von früh bis spät, eine Wolke von Fliegen und Mücken.
Vergessen darf ich nicht den Staub, der das alles einhüllt, kein gewöhnlicher Alltagsstaub, sondern ein gräulicher Jahrtausendstaub, dick, klebrig, man wagt schon gar nichts mehr anzufassen. Der Staub, die Zeitungen, die Töpfe, Teller und Tassen regieren hier den Raum und wo bleibt die Kunst? Es hängen zwar einige Bilder an den Wänden, aber die zählen nicht mit, meine „Meisterwerke“ sind woanders; meist eingepackt und freilich auch verstaubt, harren sie, an der Ostwand, ihrer Auferstehung. Farben und Pinsel sind auch da, aber gewiss, sogar eine Palette; doch all dies scheint in die Flucht gejagt von dem Kram und Plunder, der sich hier breit gemacht hat u. nicht weichen wird, solange ich und der Baltenbaron das Zepter schwingen.
Das aber ist das Schöne dieses Ateliers, dass es geräumig ist: dreizehn rechtschaffene Männerschritte lang und fünf in die Breite. Man kann hier spazieren gehen und das tu ich zu jeder Zeit, denn ich hab gehört, das Spazierengehen sei gut für die Gesundheit. So bahne ich mir jeden Abend einen Weg durch die Zeitungshaufen, mögen auch meine Reiterstiefeln den aufwirbeln, dass ich wie in einer Staubwolke marschiere. Ich marschiere, denn das ist gut für die Gesundheit, unverdrossen, rechts, links – rechts, links! Dabei kann es vorkommen, dass, im Übermut, ich mir ein Liedlein summe mit meiner brüchigen Greisenstimme, solch eins, aus den „tolldreisten Zwanzigern“ in Berlin. Die kommen mir zuweilen in den Sinn, die schlüpfrigen, frechen, unzweideutigen – und damals gab es viele solcher Lieder.
Verdammt! ich war auch einmal jung. Dass so schnell ich alt wurde, mit wallendem weißen Bart, kahlem Haupt und elendem Gedächtnis – begreife nicht, dass ich auf einmal alt sein soll, uralt, wo kürzlich noch ich mir den Wind um Nas‘ und Ohren blasen ließ – das will mir unbegreiflich scheinen, unfassbar, widervernünftig, rätselhaft, krumm und verrückt – Donnerwetter! das passt mir garnicht.
Quelle:
Ludwig Meidner: Beschreibung eines Malerateliers in Marxheim
Manuskript 4 Bl., Stadtarchiv Hofheim 02.09.16.1 Jughenn
zit. n.: Hofheimer Chronik, Ausgabe I 1962, S. 56f.